Anforderung:
Neuerrichtung eines alpinen Wohnhauses, nachdem das alte abgebrannt war
Lösung:
Baukörper mit moderner Formensprache und historischen Zitaten an neuem Standort mit vertrauten Ausblicken
Das Pflerschtal in Südtirol erstreckt sich über eine Länge von etwa 16 Kilometern nahe der österreichisch-italienischen Grenze. Es gilt als eines der landschaftlich schönsten Täler des Landes und ist noch immer stark von bergbäuerlichen Strukturen geprägt. Kleine Streusiedlungen und traditionelle, über die Hänge verstreute Bergbauernhöfe prägen das Bild des Tals. Einer dieser alten Höfe war im Besitz der Pflerscher Bauherrenfamilie – bis er durch ein Feuer zerstört wurde.
Neuer Standort, vertraute Ausblicke
Nach diesem Schicksalsschlag wollten die Eigentümer die Brandruine nicht einfach durch einen Neubau an gleicher Stelle ersetzen. Deshalb beauftragten sie das Büro Naemas Architekturkonzepte aus Bozen damit, auf dem 9.000 m² großen Grundstück ein neues Haus an anderem Standort zu errichten.
Gemeinsam mit den Architekten verwendete die Familie viel Zeit darauf, potenzielle Bauplätze zu begutachten und diese auf ihre Eignung hin zu prüfen – beispielsweise, was Ausrichtung und Orientierung, Besonnung, topographische Gegebenheiten u.Ä. betraf.
Die Wahl fiel schließlich auf einen Bauplatz unweit des ehemaligen Bestandsgebäudes – nur 50 Meter davon entfernt, jedoch im ansteigenden Gelände angesiedelt. Dadurch ergeben sich vertraute Ausblicke, etwa auf einen alten Apfelbaum, eine denkmalgeschützte Kapelle sowie die umliegenden Berggipfel. Die Hanglage Richtung Süden hoch über dem Tal sorgt für eine optimale Besonnung auch in den Wintermonaten.
Vergangenheit zeitgemäß interpretiert
Statt eines einzelnen Volumens entwickelte das Südtiroler Planerteam auf Wunsch der Bauherren zwei separate Baukörper. Aufgrund der Hanglage wurden diese in unterschiedlichen Höhen und leicht versetzt zueinander angeordnet. Dadurch wirken beide Gebäude von außen betrachtet wie zwei eigenständige, voneinander getrennte Häuser. Im Inneren jedoch verknüpft eine unterirdische Verbindung die beiden Gebäudeteile zu einer funktionalen Einheit.
Wichtig war den Bauherren eine zeitgenössische, moderne Formensprache, die gleichzeitig Bezug nimmt auf die Vergangenheit. Daher fiel die Wahl auf ein asymmetrisches Satteldach als Reminiszenz an die historisch gewachsene Umgebung. An den Fassaden verwendeten die Architekten Lärchenholz als traditionelles Baumaterial und verliehen diesem mit einer grauen Lasur einen modernen Touch. Die vertikalen Holzlatten sind in regelmäßigen Abständen mit gefrästen Ornamenten verziert, die früher auch den ursprünglichen Erbhof zierten und so an ihn erinnern.
Mit hellem Lärchenholz ausgekleidete Loggien und Nischen durchbrechen die Ansicht an mehreren Stellen und sorgen in Kombination mit den naturbelassenen Holzrahmen der großflächigen Fenster für einen leuchtenden Kontrast zur dunklen Gebäudehülle.
Alpiner Stil mit urbanem Gegenstück
Noch deutlicher wird die Mischung aus Alt und Neu im Inneren der beiden Chalets: Der untere Baukörper präsentiert sich im alpinen, ruralen Stil, während der obere Gebäudeteil als urbanes Gegenstück gestaltet ist. In den traditionelleren Räumen wird eine reduzierte Palette natürlicher Farben und Materialien verwendet – wie Lärchenholz, Naturstein und Leinenstoff. Die weißen Oberflächen dienen als dezenter Hintergrund für eine moderne Interpretation der bäuerlichen Stube. Zierornamente, die an den Fassaden zu finden sind, finden sich auch im Inneren des Hauses wieder, kombiniert mit originalen Stühlen und Kommoden aus Holz.
Der obere Baukörper präsentiert sich als städtisches Pendant und zeichnet sich durch eingefärbten Sichtbeton, Terrazzo und knallige Einbauten aus. Im großzügigen Ess-Wohnraum unter dem Dach sorgt die strukturierte Holzschalung für eine angenehme Haptik an den Betonwänden und -decken. Ein zentraler Kamin sowie farbige Fronten in der Küche dienen als Blickfang. Zusätzlich verleihen schwere, farbige Vorhänge und schwarze Installationen sowie Edelstahldetails dem zweiten Chalet ein industrielles Flair. Hier und da finden sich auch alte Einrichtungsgegenstände, die vergangene Zeiten wieder aufleben lassen und die Gestaltung des neuen »Zierhofes« harmonisch abrunden.
Bauprozess als Heilungsprozess
„Ein Bauernhaus mit Jahrhunderte alter Geschichte war historisches Erbe für dieses alpin-bäuerliche Gebiet“, so Naemas Architekten. „Ortstypisch, traditionell. Ein Haus voller Leben. Es wurde durch den Vollbrand komplett zerstört – und unsere Aufgabe als Architekten war es, diese Vergangenheit, diese Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“
Mithilfe einer alten Fotografie des früheren Hofs wurde beispielsweise ein Muster abgezeichnet und in die Fassade des neuen Gebäudes übernommen. „Dies, wie auch der gesamte Bauprozess an sich, war für die Eigentümer ein wichtiger Schritt, um sich mit dem Geschehenen zu versöhnen, um wieder Richtung Zukunft blicken zu können“, so die Planer aus Bozen. „Und wir finden, Architektur muss auch das können: die Geschichte respektieren und gleichzeitig Grundlage für die Zukunft sein.“
Projekt: Zierhof mit Stube
Standort: Pflersch, Südtirol
Bauherr: privat
Architekten: NAEMAS Architekturkonzepte, Bozen
www.naemas.net
Grundstücksfläche: 9.230 m²
Bebaute Fläche: 242 m²
Bruttogeschossfläche: 627 m²
Nutzfläche Wohnen: 263 m²
Fertigstellung: 2022