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Mauerstreifen als urbanes Potenzial

Neubau eines Nullemissions-Wohnhauses in Berlin
Mauerstreifen als urbanes Potenzial

Im Rahmen der Wiederbebauung des früheren Mauerstreifens entstand in Berlin ein Nullemissions-Wohnhaus, das in der Jahresbilanz kein klimaschädliches CO2 ausstößt. Das Projekt belegt, dass energieoptimiertes Bauen auch bei mehrgeschossigen Gebäuden in Innenstädten zu bezahlbaren Preisen möglich ist.

Markus Hoeft

Nach einem fast schon geflügelten Wort ist Deutschland im Wesentlichen fertig gebaut. Urbane Nachverdichtung kann dadurch häufig nur auf Einzelgrundstücken in bestehenden Straßenzeilen oder Siedlungen stattfinden, für größere zusammenhängende Neubaueinheiten gibt es in Innenstädten lediglich in Ausnahmen den Platz.
Eine dieser Ausnahmen ist der ehemalige Mauerstreifen in Berlin. Während in den touristischen Kernzonen auf Wiederbebauung dieses teils durch den Zweiten Weltkrieg und dann durch das DDR-Grenzregime freigeräumten Streifens Stadt meist verzichtet wird, gibt es in weniger stark besuchten, aber immer noch innerstädtischen Wohngebieten die Ausnahme-Möglichkeit, ganze Straßenzüge innerhalb einer gewachsenen Stadtstruktur neu zu bebauen.
Der besondere Ort
Die nur rund 500 m lange Boyenstraße an der alten Bezirksgrenze von Mitte und Wedding ist eines dieser durch die Mauer geprägten Areale. Auf der Weddinger Seite, die geografisch die nördliche und politisch gesehen die westliche ist, war nach dem Krieg ein Eisstadion in parkartiger Umgebung errichtet worden. Auf der anderen Straßenseite, wo der Kompass Süden, die Geschichte aber Ostberlin anzeigt, war die Bebauung für das Grenzvorfeld komplett abgeräumt worden – mitten auf der Straße stand die Mauer.
Diese südliche Straßenseite wird derzeit von verschiedenen Bauherren mit ebenso verschiedenen Architekten wieder mit einer geschlossenen Zeile mehrgeschossiger Wohnhäuser bebaut. Angesichts der völlig leeren Straße und der gegenüberliegenden Parksituation gab es keine Architektur, an die man hier hätte anschließen können. Auch eine gestalterische Abstimmung der einzelnen Entwürfe fand nicht statt. Als verbindende Klammer fungieren lediglich die einheitliche Blockrandbebauung und die in Berlin sehr stringent geforderte Traufhöhe von in diesem Fall 21 m.
CO2-neutral mit geringen Kosten
Mit der Boyenstraße Nr. 34/35 stieß vor allem eines der neuen Projekte schon vor Baubeginn auf einige Aufmerksamkeit. Denn die Architekten Christoph Deimel und Iris Oelschläger errichteten auf dem Doppelgrundstück für eine als GbR organisierte Baugruppe ein klimaneutrales Nullemissionshaus: Das aus der Passivhausbauweise weiterentwickelte Gebäude ist in seiner energetischen Jahresbilanz CO2-neutral. Dafür sorgen vor allem der hohe Dämmstandard und die Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung. Der verbleibende Energiebedarf für Heizung, Lüftung und Beleuchtung wird nahezu vollständig durch regenerative Energiegewinne abgedeckt.
Mit reinen Baukosten (300er und 400er Gruppe) von 1 775 Euro/m² belegt das Projekt, dass Energieeffizienz nicht teuer sein muss, und zeigt modellhaft, wie klimaneutrales Bauen im normalen Geschosswohnungsbau umgesetzt werden kann. Was u.a. mit dem Klimaschutzpreises der Berliner Wirtschaft in der Kategorie „Erfolgreiche und innovative Planung“ gewürdigt wurde.
Vorgefertigte Holz-Außenwand
Der Baukörper in der Boyenstraße entstand als Stahlbetonkonstruktion in kombinierter Ortbeton- und Fertigteilbauweise. Auf sieben Geschossen mit zusammen 3 040 m² Bruttogeschossfläche befinden sich 21 Wohnungen zwischen 60 und 140 m² Größe. Während die glatt verputzte Hoffassade durch vorgestellte Balkone und hölzerne Faltläden als Sonnenschutz geprägt ist, variiert die Straßenfassade das Motiv des Erkers. Die markanten Kuben treten unterschiedlich weit hervor und demonstrieren, dass energiesparendes Bauen nicht zwangsläufig mit eingeschränkter Gestaltungsfreiheit bei der Kubatur einhergeht.
Voraussetzung für die starke Gliederung ist aber natürlich ein hoher Wärmeschutz der Außenwände, den Christoph Deimel und Iris Oelschläger mit einer nichttragenden Fassade in Holzrahmenbauweise realisiert haben.
Die geschosshohen Rahmen wurden als Holztafelelemente mit Zellulosefüllung sowie einer OSB-Platte für die Luftdichtheit innen und einer Holzweichfaser außen komplett vorgefertigt und ließen sich dadurch auf der Baustelle zügig am Rohbau montieren.
„Die nichttragende Ausführung der Fassade vereinfacht den Brandschutz außerordentlich“, erklärt Iris Oelschläger. „Selbst für Geschosswohnbauten muss nur F30 erfüllt werden, was ohne klassische Kapselung allein mit einer zweifachen Gipskartonbeplankung gelingt. Durch die rauchdichte Abschottung der Wohnungen gegen die Treppenhäuser waren wir – gestützt auf ein Gutachten – auch in den Treppenhäusern von der Anforderung F90 A befreit.“
Die Holzbauweise sorgt für ein angenehmes Innenklima mit sehr guter Dämmung bei geringer Fassadendicke. Die Straßenfassade, die zugleich die Wetterseite ist, erhielt eine zusätzliche mineralische Dämmung und eine Bekleidung aus Faserzementtafeln (Cembrit Cembonit). Deren Fugenbild gliedert und gestaltet die Gebäudeansicht und gibt dem Bau gegenüber den überwiegend verputzten Nachbargebäuden eine eindeutige Individualität, die sich aber gleichzeitig in ihrer Sandfarbigkeit später harmonisch in die neue Gebäudezeile einfügen wird.
Individuelle Nachheizung
Die Holzfassade trägt maßgeblich zum Gesamt-U-Wert der Gebäudehülle von 0,245 W/m²K bei, der zusammen mit den anderen energetischen Maßnahmen, speziell der Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung, den geringen Primärenergiebedarf von nur 16 kWh/m²a sicherstellt. Die Bewohner profitieren damit neben den niedrigen Baukosten auch von dauerhaft niedrigen Energiekosten, die für Warmwasser und Heizung einer 100-m²-Wohnung laut Prognose der Architekten bei rund 300 Euro liegen werden – pro Jahr!
Die Zentrale der Lüftungsanlage mit dem Wärmetauscher befindet sich im Keller des Gebäudes (Semizentrale Lüftungsanlage von Lüfta). Durch ein Erdregister wird die aus dem Garten angesaugte Luft vortemperiert bzw. im Sommer vorgekühlt. Denn durch einen eingebauten Bypass kann die Lüftungsanlage im Sommer auch zur Kühlung genutzt werden.
Rund 90 % der im Gebäude vorhandenen Wärme lassen sich mit dem System zurückgewinnen, das die Wohnungen zentral mit auf 18 °C temperierter Frischluft versorgt. Dort ermöglichen von jedem Bewohner individuell steuerbare Nachheizregister die weitere Erwärmung – theoretisch auf bis zu 24 °C.
„Das ist jedoch nach unseren Erfahrungen aus früheren Projekten nicht nötig“, erläutert Christoph Deimel. „Meist reichen 20 °C aus, weil die Wohnungen sehr gleichmäßig warm sind und frühere Phänomene wie Zugluft oder ,kalte Füße‘ nicht mehr auftreten. Im Vergleich zu einer zentralen Lüftungssteuerung verringert diese semizentrale Lösung die Wärmeverluste deutlich.“
Auf eine konventionelle Heizung konnte dadurch verzichtet werden, lediglich die Bäder verfügen über einen Heizkörper, an dessen Kreislauf auch die individuellen Nachheizregister angeschlossen sind. Zur Wärmeerzeugung verfügt das Gebäude im Keller über ein gasbefeuertes Blockheizkraftwerk (Mephisto G16+ von Kraftwerk Kraft-Wärme-Kopplung GmbH), weiteren Strom produziert die Photovoltaikanlage auf dem Dach. Beide Systeme speisen ihre Überschussenergie in das öffentliche Netz ein, was in der Gesamtbilanzierung des Gebäudes zum Nullemissionsstandard führt.
Architekten: Deimel Oelschläger Architekten Partnerschaft, Berlin
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