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Sensibel ohne Aufsehen

Neubau und Sanierung von Wohnstätte und Verwaltungsgebäude für Menschen mit Behinderungen in Gießen
Sensibel ohne Aufsehen

Durch Neubau und Sanierung entstanden in Pohlheim Garbenteich Wohnungen und Verwaltung für die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Kreisvereinigung Gießen e.V. Bauen für Menschen mit Behinderungen heißt, weitaus bewusster, komplexer und weitsichtiger als für herkömmliche Bauvorhaben die Bedürfnisse der künftigen Nutzer zu berücksichtigen. Schwere und Art der Handicaps gehören ebenso zu den Einflussfaktoren wie Robustheit und Flexibilität.

Petra Domke

Bauen für Menschen mit Behinderungen ist immer auch ein sensibles Thema. Vor allem weil die verbauten Investitionsgelder, oft aus Spenden oder Förderbudgets, gerade in diesem nicht auf Produktivität orientierten Sozialbereich äußerst knapp sind. Die Einhaltung und Umsetzung des Regel- und Vorschriftenwerks des Gesetzgebers ist dabei nur eine Seite, die andere erfordert vom Planer eine intensive Perspektivübernahme und ein vorausschaubares Lösungsbewusstsein.
Der Gießener Architekt Peter Diehl stellte sich diesen Herausforderungen. Er schuf am Ortsrand von Pohlheim einen Gebäudekomplex, der durch Neubau sowie durch Umbau eines bestehenden Werkstattgebäudes den Brückenschlag schaffte, den ihm die Standortbedingungen und das künftige Nutzungskonzept auferlegten. Bei der Realisierung des Bauvorhabens ging es vorrangig darum, durch intelligente Raumkonzepte und eine durchdachte Materialauswahl für die Gebäude einen höheren Gebrauchswert zu erzielen, statt mit einer spektakulären Architektur Aufsehen zu erregen.
Durchgängig behindertengerecht
Der Neubau der Wohnstätte ist ein schnörkelloser Massivbau, der hufeisenförmig um einen 86 m² großen Innenhof angelegt ist. Die Umweltverträglichkeit und Reduzierung des Energieverbrauchs überzeugte den Architekten bei der Verwendung des Mauerziegels Poroton T12, denn so konnten ohne zusätzliche Dämm-Maßnahmen hochwärmegedämmte Außenwände erreichen. An den Längsseiten, entlang des Innenhofs, liegen die Bewohner- und Therapieräume. Im Kopfteil befinden sich der Treppenraum sowie ein kleines Foyer. Trotz eines engen Kostenrahmens von etwa 56 000 Euro pro künftigem Bewohner, der jeglichen Spielraum für nutzungsfreien Aufwand verbot, entstand ein anspruchsvoller und interessanter Baukörper, der heute 24 Menschen mit teilweise schweren körperlichen und geistigen Behinderungen dauerhaft Platz bietet. Zusätzlich stehen Räumlichkeiten für die kurzzeitige Unterbringung von Bedürftigen sowie für die Tagesbetreuung und -therapie zur Verfügung. Das setzte eine durchgängig behindertengerechte Bauweise und Ausstattung voraus.
Das Gebäude erschließt sich dem Besucher von Osten. Der eine Gebäudeflügel beinhaltet zwei Wohngruppen, der andere eine Wohngruppe sowie im Erdgeschoss die Tagesbetreuung und die notwendigen Nebenräume. Durch die Grundrissform ist es gelungen, den Eindruck einer schützenden Behausung zu vermitteln, die das Bedürfnis der Nutzer nach einem überschaubaren familienähnlichen Leben unterstützt. Der Innenhof dient sowohl als Treffpunkt und Bewegungsareal für die Bewohner als auch der Belichtung. Zugänglich ist er durch die Flure im Erdgeschoss und einen westlich gelegenen äußeren Eingang. Im Obergeschoss verbindet eine breite balkonartige Brücke die beiden Gebäuderiegel miteinander, die teilweise den Innenhof überspannt und zusätzlich die Funktionen des Fluchtweges erfüllt. Im Notfall könnten die Bewohner zunächst den nahen Balkon im Freien erreichen und von dort sicher geborgen werden.
Die Wohnstätte funktioniert wie ein normales Wohnhaus, in dem die Bewohner wie in einer Familie leben. Jedes Familienmitglied hat ein eigenes Zimmer, jeweils zwei teilen sich ein Duschbad. Zusätzlich besitzt jede Wohngruppe ein Ausweichbad, das auch als Pflege- oder Therapiebad genutzt werden kann. Jeder Wohngemeinschaft stehen darüber hinaus noch ein Gästezimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche mit Essbereich zur Verfügung. Im Erdgeschoss befinden sich drei weitere Therapie- und Beschäftigungsräume, in denen sich vor allem die Nutzer der Tagesförderung aufhalten. Durch die Aufteilung des Hauses in drei Wohngruppen mit gleicher Ausstattung ist eine flexible Gestaltung der Gruppenzusammensetzung möglich.
Verwaltungs- und Veranstaltungshaus
Im Unterschied zur Wohnstätte bestand bei dem Verwaltungsgebäude die Aufgabe, eine vorhandene Bausubstanz aus dem Jahre 1983 einer neuen Nutzung zuzuführen. Durch Anbau und Aufstockung eines neuen Geschosses entstand ein modernes flexibles viergeschossiges Büro- und Mehrzweckgebäude, das äußerlich durch seine Korrespondenz zur Wohnstätte, aber auch zur ländlich geprägten Umgebung am Standort auffällt.
In Nachbarschaft zu kleinen Gewerbebetrieben mit Wohneinheiten und vielen alten, erhalten gebliebenen freistehenden Scheunen schuf der Architekt einen Baukörper, der sich in seinen Dimensionen und seiner Gestaltung dem Ortsrand von Pohlheim Garbenteich harmonisch anpasst.
Das neu aufgestockte Ober- bzw. Dachgeschoss ist eine Holz-Stahlkonstruktion, die auf die neue Stahlbetondecke über dem vorhandenen Erdgeschoss aufgebaut wurde. Die Konstruktion besteht aus Stahlstützen mit durchlaufenden Stahlträgern als Pfetten und einer darüber liegenden Sparrenlage aus Holz. Als gestalterisches Element der sichtbaren Konstruktion des Schmetterlingsdaches dient der große Dachüberstand, der mit schräg laufenden Zangenelementen auf die Stahlträger bzw. auf die massiven Stahlbetonbrüstungen abgetragen wird. Angepasst an das Umfeld, erhielt das Verwaltungsgebäude eine auf Abstand gesetzte Lärchenholz-Verkleidung als Fassade.
Sorgfältige Materialauswahl
Neben architektonischen Details unterlag vor allem die sorgfältige Materialauswahl der Forderung nach behindertengerechten Problemlösungen. So wurde beispielsweise schon mit dem mineralischen Außenputz an der Wohnstätte versucht, den besonderen Ansprüchen Rechnung zu tragen. Mit einer bewusst grob gehaltenen Putzstruktur sowie einer schmutzabweisenden Lasur entstand eine äußerst robuste Fassade, bei der man permanente Berührungen, Rollstuhlkollisionen oder andere unsanfte Kontakte mit der sonst so empfindlichen Putzschicht vorausschauend einkalkuliert.
Wesentliches, immer wiederkehrendes Gestaltungselement in der Fassade der Wohnstätte sind die Fensterkonstruktionen. Bestehend aus einem umlaufenden Holzrahmen sind die Elemente in den Wohnräumen mit einer verglasten und einer geschlossenen Seite versehen. Die fast raumhohen transparenten Fenster-Wände ermöglichen den Bewohnern eine intensive Sichtbeziehung zu den Außenanlagen, denn die ungehinderte, aber sichere Zwiesprache mit der Natur hat sich in der Erfahrung der Betreiber als positives soziales Element erwiesen. In einigen Räumen des Erdgeschosses ist der verglaste Teil sogar als Dreh-Kipptür ausgebildet. Für die meisten Räume wählte man allerdings aus Gründen der Sicherheit eine Ausstattung mit verglasten Brüstungselementen sowie Dreh-Kippflügel. Das geschlossene Fensterelement, ein Sandwichbauteil, strukturiert die Fassade und bildet mit der Schiebe-Verschattung ein interessantes Farbspiel.
Zurückhaltende Innenraumgestaltung
Die beiden Baukörper bestechen im Inneren durch eine klare, sachliche Raumstruktur. Natürliche Farbigkeit, Tageslicht und einige wenige Farbkontraste bestimmen die Eindrücke. Holz, verputzte Wandflächen und die großen Fensterflächen sorgen für eine freundliche Atmosphäre. Die zurückhaltende Innenraumgestaltung lässt Spielraum für die individuellen Ideen der Bewohner, die damit ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstbestimmtheit unterstreichen.
Bis auf das geforderte Minimum an tragender Konstruktion wurden alle Innenwände im Trockenbau ausgeführt, um ein Höchstmaß an Flexibilität einerseits und Stabilität anderseits zu erreichen. Im Wohnbereich bot die Piano Schallschutzplatte gute Voraussetzungen für die geforderten Eigenschaften. Diese Platte besitzt nachweislich schallschutztechnische Vorteile. Neben den Trennwänden in den einzelnen Wohngruppen entstanden auch die Therapieraumwände im Erdgeschoss aus diesem Material, obwohl hier durch die Unterbringung einer Gruppe Schwerstbehinderter und Autisten besonders hohe Ansprüche an die Festigkeit und den Schallschutz der Konstruktion bestanden. Da es sich dennoch um Standardlösungen handelte, bedeutete die Piano-Platte in Verbindung mit herkömmlichen Konstruktionen nach DIN 18183 eine hohe Planungssicherheit.
Alle Erschließungen wurden übersichtlich und rollstuhlgerecht ausgebaut. Die Bäder erhielten neben bodengleichen Duschen alle notwendigen Ausstattungselemente, die auch körperlich unsicheren Menschen eine unkomplizierte Badnutzung ermöglichen. In dem Fliesensystem Plural fand man durch seinen modularen Aufbau und der Vielfalt von Formaten die Basis für beanspruchbare Ausstattungen und kreative Gestaltungen. Die unglasierten Feinsteinzeugfliesen der Serie Plural decken unterschiedliche Trittsicherheitsgruppen ab und entfalten dank ihrer breiten Farbskala eine eindrucksvolle Ästhetik.
Inzwischen ist die Wohnstätte bezogen, es wird gemeinsam gearbeitet, gekocht, gelacht und das Haus mit Leben erfüllt. Mit den für gehandicapte Menschen angepassten Bedingungen erhalten sie nicht nur die Möglichkeit für ein sinnerfülltes Leben und soziale Beziehungen, sondern unmittelbare Lebenshilfe für mehr Selbstbewusstsein und Chancengleichheit in der Gesellschaft.
Neben den gesetzlichen Bestimmungen sind die DIN-Normen DIN 18024 Teil 2 und DIN 18025 Teil 1 und 2 bei der barrierefreien Planung und Ausführung von Gebäuden zu beachten. DIN-Norm 18025 Teil 1 enthält Planungshilfen für Wohnungen von Rollstuhlfahrern. Regelungsgegenstand der Norm DIN 18025 Teil 1 sind barrierefreie Wohnungen, die insbesondere für Blinde und Sehbehinderte, Gehörlose und Hörgeschädigte, Gehbehinderte, Menschen mit sonstigen Behinderungen, ältere Menschen, Kinder sowie für klein- und großwüchsige Menschen nutzbar sind. Die Norm DIN 18024 Teil 2 enthält Grundlagen für die Planung von Gebäuden und Arbeitsstätten, die öffentlich zugänglich sind. Sie ist bei Tagesstätten, Werkstätten, Heimen für behinderte Menschen oder z. B. bei Versammlungs- und Verkaufsstätten, öffentlichen Büro- und Verwaltungsgebäuden, Gaststätten, Beherbergungsbetrieben, Schulen, Arztpraxen und Sportstätten anwendbar. Es ist geplant, die DIN 18024 und DIN 18025 zu einer DIN 18030 zusammen zu fassen, welche ganzheitliche Vorgaben zu barrierefreiem Bauen und Wohnen geben soll. Der erste Entwurf liegt vor. Es wurden bis zum angegebenen Stichtag allerdings eine Vielzahl von Einwendungen vorgebracht, die der DIN- Ausschuss derzeit bearbeitet. Wann die DIN 18030 Gültigkeit erlangt, ist bisher unklar.
bba-Infoservice
Wärmedämmendes Mauerwerk 509 Mineralischer Außenputz 510 Fenster-Wände 511 Schallschutzplatte Piano 512 Fliesensystem Plural 513
Architekturbüro: DIEHL ARCHITEKTEN GmbH, Gießen

Kompakt-Info
„Eine Gesellschaft muss sich gefallen lassen, an der Qualität des Umgangs mit ihren Schwächeren und Schwachen gemessen zu werden. Auch darin liegt eine Verantwortung der Architekten und Planer. Sie müssen die mannigfaltigen Anforderungen umsetzen sowie in nutzbare und behindertengerechte Lebens- und Arbeitsbedingungen für die bedürftigen, behinderten Menschen verwandeln, die damit nicht etwa Sonderbehandlungen erfahren, sondern nur ihren Anspruch auf Gleichberechtigung, Normalität und Chancengleichheit einklagen. Unendlich sind die Listen der Beispiele, die eindeutig den Zusatz schildbürgerlich zu sein, verdienen. Aufzugslose und damit nicht barrierefreie Zugänge zu Ämtern, Gerichten und Verwaltungsgebäuden zählen ebenso dazu wie für Behinderte unerreichbare Verkehrsmittel sowie fehlende Spezialtoiletten. Zu hoch angebrachte öffentliche Telefone und Bankautomaten, unendlich viele Schwellen und Kanten sowie jeweils nur auf Optik und Akustik ausgerichtete Signalanlagen stellen für Menschen mit Handicaps unüberbrückbare Schwierigkeiten dar, die ihre Mobilität und Selbständigkeit enorm einschränken. Die Sensibilität der Gesellschaft für die Probleme und Belange der Menschen mit Behinderungen ist dringend notwendig, und das Bauen sollte dabei nicht ausgeschlossen bleiben.“
Peter Diehl
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