Startseite » Allgemein »

Originalgetreu

Fachwerkhaus-Rekonstruktion in Geislingen
Originalgetreu

Anne Fingerling / red.

Das Schicksal des ältesten Gebäudes Geislingens (Baden Württemberg) war schon fast besiegelt, die allgemeine Forderung lautete „Abreißen“.
Wären da nicht eine Architektin und ein Holzbauingenieur gewesen, deren unermüdlicher Einsatz den Abriss des „Kornschreiberhäusle“ schließlich verhinderte: Martina und Martin Stahl rekonstruierten das Gebäude originalgetreu mit viel Liebe zum Detail – zu über 50% in historischer Substanz.
Voruntersuchungen
Bei ersten, 1985 durchgeführten Untersuchungen des leerstehenden Gebäudes stießen Vertreter des Landesdenkmalamtes auf eine ältere oberdeutsche, sogenannte alemannische Holzbauweise. Aufgrund einer dendrochronologischen Untersuchung konnte die Errichtung des Gebäudes auf das Jahr 1397 festgelegt werden.
Im OG war die über 600 Jahre alte Raumgliederung des Gebäudes teilweise noch erhalten, ebenso einiges der originalen Fachwerkkonstruktion. Im EG hingegen stand kein Stein aus der ursprünglichen Baumasse mehr auf dem anderen.
Die einst vorhandene Vorkragung des Ostgiebels war untermauert worden, um einen besseren Raumzuschnitt zu erhalten. Das ursprüngliche Holzskelett der Wand wurde dabei bis auf tragende Eckelemente entfernt. Durch Fenstervergrößerungen ist die Riegelung schließlich in weiten Teilen zerstört worden.
Die Fachleute kamen zu dem Schluss, höchstens 5 % der Originalsubstanz sei noch zu retten. Ein Erhalt des Gebäudes lohne sich aufgrund der vielen Veränderungen nicht, da der Urzustand aus dem Jahre 1397 nicht mehr erkennbar sei.
Sorgfältige Bauaufnahme
Im März 1989 erwarb das Ehepaar Stahl das „Kornschreiberhäusle“ von der Stadt Geislingen. Schubkarrenweise hatten sie bereits zuvor den Schutt aus dem Gebäude weggeräumt, um eine bis ins Detail genaue Bauaufnahme erstellen zu können.
Nur so ließ sich das Gebäude Stück für Stück rekonstruieren. Das ehemalige Kornschreiberhaus wurde 1397 als Fachwerkhaus über einem älteren, kleineren Gewölbekeller errichtet. Im EG und OG bilden drei Längsachsen mit jeweils vier Ständern und vier Querachsen mit jeweils drei Ständern das Traggerüst (zwölf Ständer).
Die drei westlichen Querachsen waren in einer Länge über die Höhe von EG und OG abgezimmert. Am Ostgiebel waren die Ständer jeweils auf ihre Geschosshöhe beschränkt.
Durch die Konstruktionsart entstand eine für die Zeit um 1400 interessante konstruktive Variation von geschoss- und stockwerksweiser Abzimmerung. Das OG kragte giebelseitig um 76 cm über die Hausflucht im EG aus.
Ab- und Wiederaufbau
Der systematische Abbau des Gebäudes erfolgte ab Dezember 1989. Dabei wurden sämtliche Baustoffe und jeder Balken nummeriert und in die Bestandspläne eingetragen. Diese Art der Bestandsaufnahme ermöglicht einmalige Einblicke in alte Handwerkstechniken.
In der Zimmerei Stahl konnten die Handwerker nun beginnen, alle Holzteile zu reparieren und steckfertig vorzubereiten. Um möglichst viel von der Altsubstanz zu erhalten, wurden die Originalhölzer mit Altmaterial kraftschlüssig verbunden. Rund 10 m³ Eiche aus Abbruchmasse historischer Gebäude hatte Martin Stahl dafür zusammengetragen und eingelagert. Im April 1992 begannen die Zimmerer mit dem Wiederaufbau.
Das gesamte Gebäude wurde nun unterkellert, um Lagermöglichkeiten für die geplante Gastwirtschaft zu schaffen. Eine Betondecke sichert den alten Gewölbekeller mit Spitzbogeneingang ab und schützt zugleich die Schwellhölzer vor Feuchtigkeit.
Die Zimmerer orientierten sich am Bauzustand um 1500. Sie errichteten die alemannische Holzkonstruktion nach alter Zimmermannskunst ohne Baukran und ohne Metallverbindungen.
Die Verbindung der Hölzer funktioniert mit 700 Eichenholznägeln, nach altem Vorbild gefertigt, 30 cm lang, 30 mm stark.
Das Fachwerkgerüst steht nur durch sein Eigengewicht auf der Betonplatte, ohne direkte Verbindung. Im OG konnten weitgehend die originalen Ständer wieder eingebaut werden einschließlich des profilierten Eckständers am Fenstererker sowie die Mehrzahl der Deckenbalken. Das Dachgerüst ist mitsamt den Sparren nahezu vollständig überliefert.
Außenwandaufbau
Die Gefache sind außen mit Leichttonmörtel (Putzsystem, Fa. Bayosan) verputzt. Darunter befindet sich eine Holzfaserdämmplatte (Gutex), sowie eine Lattenkonstruktion als Skelett für die Strohlehmausfachung.
Durch diesen Aufbau soll die Bildung von Schwindrissen zwischen Holzkonstruktion und Ausfachung möglichst gering gehalten werden. Zudem wird eine größere Winddichtigkeit erreicht, sowie ein relativ guter Dämmwert, was eine höhere Behaglichkeit in den Räumen garantiert. Außen wurde auf die Gefache ein Kalkputz aufgebracht und anschließend eingesumpfter Kalk mehrmals gestrichen. Auch von innen sind die Gefache mit Kalkputz versehen und anschließend mit Kalk-Caseinfarbe gestrichen. Für die zweiflügeligen Verbundfenster mit mundgeblasenen Glas wurden die alten Beschläge wieder verwendet.
Strohdach und Brandschutz
Während der Arbeiten stellte sich aufgrund der Dachkonstruktion heraus, dass die ursprüngliche Dachbedeckung nicht aus Biberschwanzziegeln, sondern aus Stroh oder Schilf bestanden haben muss.
Das große Gewicht der zuletzt vorhandenen Ziegeldeckung war auch die Ursache dafür, dass sich die Balken bereits durchgebogen hatten. Eine Strohdeckung schien den Behörden hingegen in dieser Region unmöglich.
Zudem gab es feuerpolizeiliche Bedenken. Nachforschungen im Stadtarchiv ergaben, dass im Jahre 1680 die „weiche Bedachung“ ausdrücklich verboten worden war. Prompt berief sich der zuständige Beamte zunächst auf eben diese Verordnung.
Sein Amtsnachfolger war zugänglicher: Mit einem Brandgutachten wurde speziell für das Objekt ein brandschutztechnisches Sicherheitskonzept erstellt, welches die Risiken einer externen Brandübertragung etwa durch Strahlungswärme oder Funkenflug so weit minimiert, „dass keine höheren Risiken als bei konventioneller Bauweise verbleiben und damit keine brandschutztechnischen Bedenken der Baugenehmigung entgegenstehen.“
In Kombination mit einer Brandmeldeanlage wurde eine Technik eingesetzt, die sich an die Prinzipien der Sprühwasser-Löschanlage anlehnt: Im Falle eines Brandes wird über 14 Sprinkler die gesamte Reet-Dachfläche mit Wasser ausreichend intensiv besprüht. Alle Zuleitungen der Sprühflutanlage wurden im Dachinneren angeordnet und mit einem Stichrohr durch die Reet-Dachfläche geführt.
Dachdeckung
Das Verlegen der Riedgras-Gebinde erfolgte durch eine dänische Spezialfirma. Die insgesamt 1 600 Reetgarben wurden direkt von Ungarns Plattensee angeliefert.
Das Reet trocknet durch seine Kapillaren von innen her aus. Schimmel oder Stockflecken in den unteren Schichten sind somit ausgeschlossen.
Die über 45 Grad steile Dachneigung verhindert zudem einen möglichen Stau von Nässe auf der Außenhaut.
Höchstens 3 cm der Oberschicht bleiben feucht und bilden einen natürlichen Schutzmantel gegen Überhitzung. Unter der Dachlattung wurden Brandschutzplatten aus Steinwolle verlegt, darunter befinden sich Holzfaserdämmplatten, auch von Gutex.
Heutiges Nutzungskonzept
Im EG befindet sich heute eine schwäbische Weinstube. Die Wirtshausküche wurde im einstigen Stall eingerichtet. Die Tragkonstruktion blieb unverändert erhalten.
Die Gefache zwischen den Innenwänden blieben zum großen Teil leer, um eine großzügigere Raumwirkung zu erhalten. Teilweise wurden die Innenwände in alter Weise hergestellt mit Weidenstakung und Lehm.
Im OG und DG entstand eine Wohnung für die Wirtsleute. An der Südseite ermöglicht ein Treppenanbau in Fachwerkkonstruktion den separaten Zugang zur Wohnung sowie zum alten Gewölbekeller.
Das historische Raumkonzept bleibt so erhalten. Der Anbau ist von außen mit einer Leistenschalung aus Douglasie beplankt. Die unbehandelte Verschalung vergraut mit der Zeit und bildet so einen reizvollen Kontrast zum Originalhaus. Das Dach ist mit den handgestrichenen Bibern des alten Daches gedeckt.
Alt und Neu
Behutsam wurden originale Materialien und alte Handwerkstechniken mit neuen Werkstoffen und moderner Technik kombiniert. Eine in Lehmestrich verlegte Fußbodenheizung sorgt nicht nur für angenehme Raumtemperaturen, sondern erzielt auch eine für die Fachwerkkonstruktion wichtige gleichmäßige Wärme.
Über dem Lehmestrich verlegten die Handwerker Holzdielen bzw. Solenhofer Platten, darunter dienen Holzfaserdämmplatten als Trittschall.
Die Wasser- und Abwasserrohre verlaufen als Vorwandinstallationen vor dem Hausgerüst in zwei Versorgungssträngen; für Bäder und Toiletten und für die Küche.
Die Elektroinstallationen wurde in der Gastwirtschaft in alten Bleirohren sichtbar auf dem Innenputz verlegt mit Porzellan-Verteilerdosen, um so dem alten Ambiente gerecht zu werden. Für den Betrieb der Gaststätte sowie der Küche war der Einbau einer Be- und Entlüftungsanlage erforderlich.
Die Lüftungsrohre führen im Hausinnern nach oben, damit die Fassade nicht beeinträchtigt wird. Hier war es schwierig, Fachleute mit Sinn für historische Bausubstanz zu finden.
• Holzfaserdämmplatte
• Leichttonmörtel
………………………….
Planung und Bauleitung:
Holzbau Stahl, Architektin Martina und Martin Stahl, Kuchen
Tags
Unsere Top-3-Projekte des Monats
MeistgelesenNeueste Artikel

Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der bba-Infoservice? Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum bba-Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des bba-Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de